Fragment
PERSIL
oder: das Märchen von dem sagenhaft glücklichen Leben des Valentin von Henckelsiefen
in 101 Kapiteln
von Uli Pelz (a) alle Rechte
Öffentliches Schreib- und Mitleseprojekt
September 2018 - August 2020
Das Schreibprojekt wurde am 18.10.2018 aus verschiedenen Gründen beendet
4.10.2018
Kapitel 4
PERSIL, die Verwaltungsschule, die Begegnungen mit Zischler und die Demütigungen durch einen niederländischen Chefredakteur in Leeuwarden / Westfriesland
Zu jeder gelingenden Berufsausbildung gehört der Besuch der Berufsschule, im Falle des Valentin von Henckelsiefen: die Verwaltungsschule der Stadtgemeinde in der Hölderlinstraße. In der Regel war 1 x die Woche Unterricht, aber es gab auch herrliche Blockunterrichtsblöcke und herrliche Exkursionen nach Rönnebeck, Syke und Norden/Ostfriesland. Valentin von Henckelsiefen, genannt PERSIL im öffentlichen Raum und WALLI pflegefamilienintern bei den Nordmanns, hatte, und das muss man unumwunden berichten, ein sehr gespaltenes Verhältnis zu dieser Ausbildungsinstitution, weil sie ihn einerseits thematisch langweilte wegen des trockenen Stoffes und andererseits begeisterte wegen der wunderbaren menschlichen Kontakte zu seinen „Kommilitonen und Kommilitoninnen“. Es waren tolle Typen in seiner Klasse. Einige wurden später Zahnärzte, andere bekannte Musiker, noch wieder andere Hochschullehrer und Amtsleiter – die jungen Frauen sollte man später wiedertreffen als Abteilungsleiterinnen in ministerialen Behörden, als Sachbearbeiterinnen in den so genannten Pflegesatzzimmern der Jugend- und Sozialbehörden und als Frauenbeauftragte im Amt für das Städtische Kassenwesen. Schön und gut: das Landes- und das Städtische Beamtenrecht, das Sozialversicherungsrecht für die Städtischen Angestellten, die Geschichte der Verwaltung, der Nationalsozialismus, die Weimarer Republik, Bismarck, Hindenburg, der Wiederaufbau nach dem Krieg und die berühmtesten städtischen Kaufmannsleute, das Grundgesetz und die Städtische Verfassung, die Kammeralistische Haushaltsführung und vieles andere Interessante mehr. – alles wunderbare schulische Themen. Aber was hatten die wunderbaren Lehrinhalte mit der Ausbildungspraxis der Beamtenanwärter in den Kellerarchiven, den Krankenhausverwaltungskabuffen mit Telefon, den wunderbaren Amtsfeierlichkeiten zu jedem Geburtstag oder gar mit den Mittagsbesuchen des Anleiters in den amtsnaheliegenden Kneipen zu tun? Diese Frage stellte sich für die Schulleitung und für die jeweiligen Referenten natürlich nicht. Sie hatten ihren vorgegebenen Schulstoff durchzupauken, egal, ob es sich bei den Schülern um ehemalige Findelkinder oder um Flüchtlingskinder aus der Ostzone handelte, die in ihrer Kindheit bereits eine Ausbildung als Junge Pioniere genossen hatten. Natürlich stand auch Beamtenrecht auf dem Programm. Hier konnten die Zöglinge der Verwaltungsschule lernen, weshalb es sich lohnt, fleißig und strebsam und staatstreu, um nicht zu sagen: sozialdemokratisch staatsparteitreu zu sein im Beamtendasein. Wer aufsteigen wolle, so hieß es dann bei Zischler, der müsse schon die Arschbacken zusammenkneifen und lernen, lernen, lernen – so wie er selbst es gemacht habe. Schließlich, so ließ er dann verlauten, sei er mit 25 Jahren bereits Regierungsrat im Schuldienst und er wolle noch höher hinaus. Er strebe nicht nur die Leitung der Verwaltungsschule an, sondern auch die Deutsche Meisterschaft im Faustball, seiner Lieblingssportart.
Ohne Zischler lief gar nichts in der Verwaltungsschule, besonders nicht in der Jahrgangsklasse 2, in der Zischler auch noch Klassenlehrer und somit schulischer Ausbildungsleiter für Valentin war. In seinem dunkelblauen Anzug mit rotem Schlips sah Zischler stets aus wie die gesamte Städtische Verwaltungsleitung. Als Zischler den Spitznamen von Valentin durch eine Indiskretion eines späteren Zahnarztes, der ebenfalls aus der Wunderstadt West war, erfuhr, blühte Zischler im Umgang mit Valentin, der ja immer wegen seiner nebenberuflichen abendlichen Kirchenaktivitäten völlig unausgeschlafen in der Schule erschien, regelrecht auf. Er stand frühmorgens vor dem Eingang der Schule und stoppte die Verspätungszeit von Valentin, um ihn dann mit den sarkastischen Worten: „PERSIL, PERSIL, der schläft gern‘ viel“ den anderen Schülern und Schülerinnen der Jahrgangsklasse vorzuführen. Valentin selbst gewöhnte sich mit der Zeit an dieses Empfangsritual in der Verwaltungsschule und drehte sich meistens morgens im Bett noch einmal um. Es war ja egal, ob Zischler 5 Minuten oder gar 10 stoppte, vielleicht sogar 30. Natürlich blieb das für PERSIL nicht ohne Folgen. In den Halbjahreszeugnissen, von Zischler persönlich geschrieben, waren dann Kommentare wiederzufinden, die einem raschen Aufstieg des von Henckelsiefen in der städtischen Beamtenhierarchie extrem entgegenstanden.
Zischler war sehr sportorientiert. Nicht nur, dass er die Schüler und Schülerinnen seiner Jahrgangsklasse ständig in die Geheimnisse des Faustballsportes draußen auf den Friedrichswiesen mindestens 1x die Woche in der Zeit der Blockunterrichte einzuweihen versuchte, sondern sie auch immer mehrere Runden Leichtathletik auf der Kiesbahn des TSV Eiche laufen ließ – er natürlich mit Stoppuhr in der Hand – nein, er hatte von Anfang an auch große Pläne für seine spätere Zukunft als Sportvereinspräsident, mindestens als Vizepräsident. So kamen die Schüler und Schülerinnen des Jahrgangsklasse ständig in den Genuss der Aufzählungen der Zischler’ischen Verdienste um den Aufbau und die Führung des Fußballvereins, für den er ehrenamtlich tätig war. Die Klasse musste sich das ausführlich und endlos bis zum Wolff und bis zum Assauer anhören- bis es dann erlösend zur Pause, zur Halbzeit klingelte. PERSIL, unser Valentin, war dann immer der erste der Klasse, der nach draußen stürmte, um endlich in den Genuss einer Virginia Nr.6 zu kommen, die er sich ja bei seinem Diakon, Hans dem Tischler, abgekuckt hatte. Zischler selbst rauchte nicht, er trank auch keinen Kaffee, noch nicht einmal Tee – nein, er soff tatsächlich nur lauwarmes Wasser aus einer großen Tasse seines von ihm ehrenamtlich betreuten Sportvereins. Und aß einen Apfel.
Zischler organisierte gerne auch Bildungsexkursionen für seine Klasse. Dabei suchte er Bildungsorte aus mit Sportplätzen, auf denen Faustball gespielt werden konnte. Die Ausrüstung für Faustball hatte er immer dabei: zwei Pfeiler, Strick, Kreidemaschine, Ball. Wenn Faustball während des Klassenaufenthaltes in der Niedersächsischen Sportschule in Syke und in der Bremischen Politischen Bildungsanstalt in Rönnebeck noch möglich war, so war der einwöchige Aufenthalt in der deutsch-niederländischen Heimvolkshochschule in Norden / Ostfriesland faustballfrei wegen Sportplatzmangel. Sehr zur Freude von Valentin, auf dem Sportplatz auch PERSIL gerufen, der das Faustballspiel eigentlich hasste, da er sich dabei regelmässig die Unterarme wund bis blutig schlug. Statt Faustball gab es in der Bildungsanstalt 6 – 7 x am Tag längere Teepausen, sehr zur Freude der Schüler und Schülerinnen. Tee kannte Valentin von zu Hause aus, bei seiner Pflegefamilie Luise und Harry Nordmann, eigentlich gar nicht. Dort wurde immer nur löslicher Kaffee aus dem Nescafeglas getrunken – ein Kaffeelöffel Pulver, heißes Wasser drauf, fertig. Nicht so eine Zeremonie wie beim Tee in der Heimvolkshochschule. Und auch keine langwierigen Tee-Vorträge von dem Kursleiter und Chef der Bildungsanstalt Onno Warnken. Onno erklärte ausführlich, wie der Ostfriesische Tee zu trinken sei: Erst Zucker in die Tasse, dann heißer Tee, dann Sahne. So machten es Valentin und seine Mitschüler dann auch: kiloweise Zuckerstücke, genannt Kluntjes, auf den Tassenboden, heißen dunklen bitteren Ostfriesentee drauf, zum Schluss literweise Sahne. So standen sie also im Flur der deutsch-niederländischen Anstalt und tranken diesen magenfeindlichen Tee, dabei rauchten sie gemeinsam mit Onno Warnken, der auch gerne paffte, Zigaretten – sehr zum Leidwesen von Zischler, der statt Tee und Zigaretten im Laufe des Tages mindestens 7 Äpfel zu sich nahm, draußen vor der Tür im Blickfeld der berühmten Teefabrik Onno Behrens.
Ziel der Bildungsexkursion nach Norden / Ostfriesland war die Vermittlung der gemeinsamen deutsch-niederländischen Geschichte seit 1939 und die Wiederbelebung der Deutsch-Niederländischen Nachbarschaft und Freundschaft. Onno Warnken, der Chef der Heimvolkshochschule, der in höchstem Maße politisch aktiv war in Ostfriesland und Niedersachsen und später sogar Fraktionsvorsitzender im Parlament in Hannover werden sollte – in welcher Partei muss ja hier nicht besonders betont werden – Onno Warnken also begriff seine Aufgabe als Lebensaufgabe, die er mit aller Ostfriesischen Vehemenz und charismatischen Persönlichkeit an seine Studenten zu vermitteln versuchte. Valentin von Henckelsiefen jedenfalls, auch hier in der Heimvolkshochschule nur PERSIL gerufen, sogar von Onno, nur nicht von Zischler, der es weiterhin bevorzugte Valentin als Herr von Henckelsiefen förmlich anzusprechen – Valentin jedenfalls war äußerst beeindruckt von Onno Warnken. Er zeigte ihm das auf eine für ihn ungewöhnliche Art: Er hörte sich äußerst konzentriert und aufmerksam die Vorträge von Onno an und stellte nicht nur dumme Fragen. Sehr zum Erstaunen von Zischler, der seinen Lieblingsschüler so eifrig und schlau bisher noch nicht erlebt hatte. In den Teepausen versuchte Zischler sogar PERSIL in seinem deutsch-niederländischen Lerneifer auszubremsen, indem er ihm mit Apfelstücken im Mund zuraunte: „Herr von Henckelsiefen, aus ihnen wird noch einmal, wenn sie so weitermachen, ein echter Holländer!“ Dabei hatte dieses Mal Zischler die Lacher der städtischen Verwaltungsschüler auf seiner Seite. Böhmermann, der Klassenprimus, ergänzte noch: „Persil, bald rollst du wohl den Käse zum Bahnhof!“ Valentin war verunsichert, weil er ja tatsächlich die Vorträge, Bilder, Filme und Tonaufnahmen über den Deutschen Überfall auf Holland und die Besetzung des Landes durch die Deutschen in der Nazizeit sehr ernst und bedrückt annahm. Auch fragte er sich, weshalb über dieses Kriegsunrecht nicht bereits in der Mittelschule von Ludwig Steinau berichtet wurde, und weshalb auch Hans, der Tischler und Diakon, in den Gruppenstunden der Jungen Gemeinde darüber bisher kein Wort verloren hat.
Im Rahmen der Bildungsveranstaltung gab es dann auch eine zweitägige Busfahrt über die Grenze von Ostfriesland ins niederländische Westfriesland. Onno Warnken klärte über den richtigen geographischen Sprachgebrauch auf und bat dringend darum, diesen bei der Begegnung mit den Menschen auch zu beachten. Er machte den geographischen Unterschied zwischen den Niederlanden, Holland und Friesland deutlich und erklärte, dass die Gruppe während der Fahrt sich nicht in Holland, sondern ausschließlich in Friesland aufhalten würde. Das sollte einer begreifen, und so kam es tatsächlich während der Fahrt ständig zu Begriffsverwirrungen, die dann auch noch böse Folgen haben sollten. Als nämlich in Leeuwarden eine deutsch-niederländische Zusammenkunft mit dem Chefredakteur des „Leeuwarder Courant“, einem älteren Herrn über die 60, stattfand, kam es zum Eklat. Eigentlich war vorgesehen, dass Herr van Bommelen, so hieß der Chefredakteur, über die Jahre der Besetzung der Niederlande durch die Deutsche Wehrmacht in den Jahren 1940 – 1945, exemplarisch über die Zeit in Leeuwarden, berichten würde. Doch bereits am Anfang der Zusammenkunft war die Zusammenkunft beendet. Als nämlich van Bommelen die unausgeschlafenen und verkaterten deutschen Verwaltungsanwärter – auch Valentin konnte sich kaum in einer Wachhaltung aufrecht halten - vor sich sah, ließ er seine angesammelte Wut über die Deutsche Besatzung seiner Heimatstadt hemmungslos freien Lauf und nahm die jungen Nachkriegskinder der Verwaltungsschule in die Verantwortung für das geschehene Unrecht. Überwiegend in holländisch-friesischer Fluchsprache mit deutschsprachigen Einsprengseln wie: ihr Schweine, ihr Kartoffelfresser, ihr Banditen und anderes, machte er die anwesenden Schüler zur Sau und mitverantwortlich für die Kriegsleiden der Friesischen Bevölkerung. In seinem Vergeltungsrausch schonte er selbst Onno Warnken und Zischler nicht mit Anschuldigungen im Hinblick auf ihre Mitverantwortung: „Hättet ihr Sozialdemokraten damals den ganzen Spuk nicht verhindern können?“ fragte er die Leiter der deutschen Delegation, die wie angewachsen an der Seite standen und kein Wort hervorbrachten Den Höhepunkt der Niederländisch-Deutschen Begegnung provozierte dann zum Schluss der Veranstaltung noch Valentin von Henckelsiefen, genannt Persil, indem er den van Bommelen fragte, was er denn gegen die Deutschen habe? Sie seien doch extra von Norden nach Leeuwarden gekommen, um mit den Holländern Frieden zu schließen. Das reichte dem Chefredakteur. Der forderte die deutsche Delegation auf, unverzüglich Leeuwarden und die gesamten Niederlande zu verlassen und nie wieder einen Fuß auf sein Heimatland zu setzen. Valentin, unser Persil, sehnte sich nach zu Hause bei den Nordmanns und weinte hinten auf der letzten Bank des Busses, der jetzt mit rasender Geschwindigkeit vorbei an Groningen und Leer zurück nach Norden in Ostfriesland war. Dort gab es erst einmal zur Erholung diesen magenunfreundlichen Tee mit Zucker und Sahne.
21.09.18
Kapitel 3
Valentin von Henckelsiefen, genannt PERSIL, fängt beim Staat an und wird in die Geheimnisse des Nichtstuns eingeweiht
Luise und Harry Nordmann waren sehr stolz auf ihren Pflegesohn. Valentin hatte doch tatsächlich unter Tausenden von Bewerbern nach schwierigen Aufnahmeprüfungen einen der wenigen begehrten Beamtenausbildungsplätze bei der Verwaltung der Stadtgemeinde erhalten. Valentin selbst wuchs über sich hinaus und war wieder einmal sehr glücklich darüber, aus heiterem Himmel in die Wunderstadt gefallen zu sein und in die Familie Nordmann aufgenommen worden zu sein. Luise und Harry hatten bereits vor dem Mittelschulabschluss, den Valentin mit mittelmäßigen Zensuren gerade eben so hinbekommen hatte, auf Valentin, den sie familienintern verniedlichend „Walli“ nannten, eingeredet, doch etwas Solides und etwas Zukunftssicheres zu lernen - er solle Beamter werden, vielleicht reicht es dann ja später zu etwas Höherem. Auch Gemeindeschwester Wilma, die regelmäßig nach ihrem Findling sah, bestärkte Luise, Harry und Walli in dem Entschluss eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Beim Junge-Gemeinde-Treffen wurde dann sofort gespottet, als die anderen erfuhren, was Valentin berufsausbildungsmässig vorhatte. Hans, der Diakon, der früher Tischler war, gratulierte Valentin, dem er ja selbst den Spitznamen Persil verpasst hatte, zu seiner Lehrstelle und gab ihm mit auf den Weg: „Der Herr wird dich begleiten – aber denke immer daran: Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“ Die Jungs und Mädchen der Jungen Gemeinde warfen, weil sie keine Ahnung vom Staatsdienst hatten, spöttisch ein, während der Diakon an der Virginia zog: „Bürgermeister Persil“, und: „Herr Doktor“, auch: „Herr Amtsrat Persl“, sowie Willi Meyer, der Dussel aus Bremerhaven: „Persil, Persil, der badet bald im Nil“. Großes Gelächter im gesamten Christengemeindezentrum. Selbst der Tischler prustete los, dabei fiel ihm die brennende Virginia aus dem Gesicht. Persil selbst verstand nicht ganz, was vor sich ging, und sagte kleinlaut: „Ich weiß ja noch gar nicht, wie das alles werden soll“. Der Diakon erkundigte sich bei Persil besorgt, ob der Beginn seiner Beamtenkarriere denn auch bedeuten würde, dass er dann nicht mehr zur Jungen Gemeinde kommt und beim Theaterspiel und bei den „Modernen Gottesdiensten“ nicht mehr mitmacht? „Wieso das denn“- antwortete Persil – „Beamter bin ich doch nur bis 4 Uhr nachmittags, danach kann ich dann ja zur Probe kommen“. Der Diakon nahm diese Aussage von Persil freudig zur Kenntnis und ergänzte: „Dann können wir später auch einmal darüber sprechen, ob wir dich nicht nach Spandau zur Diakonenausbildung schicken, oder meinetwegen auch nach Hamburg ins Rauhe Haus, oder auch nach Bethel in die Anstalten!“
Die Beamtenausbildung begann für Valentin von Henckelsiefen, der in der Wunderstadt, egal ob Ost oder West, von allen nur noch PERSIL oder PERSL gerufen wurde, im fensterlosen Kellerarchiv des Landesamtes für Personal am Domshof. Unten in den staubigen Gewölben lagerten hunderttausende, wenn nicht Millionen, von Personalakten aus der Weimarer Zeit und des so genannten nationalsozialistischen „Dritten Reiches“. Für Valentin tat sich wieder einmal eine völlig Neue Welt auf. Hatte er doch in der Mittelschule bei Ludwig Steinau noch gelernt, dass diese furchtbare Zeit der Nazis seit 1945 endgültig vorbei sei und auch die Weimarer Republik schon vorher ihr Ende gefunden habe, so sah er hier im verstaubten Kellerarchiv des Personalamtes die gesamten Akten der früheren Zeiten vor sich – so glaubte er jedenfalls. Oberinspektor Herrmann Rustmann, der Ausbildungschef im Kellerarchiv, klärte Valentin dann jedoch auf, indem er ihm erklärte, dass die Akten da unten nicht das gesamte Reich widerspiegelten, sondern nur die Beamten und Angestellten, die seit 1918 bis 1945 in Diensten der Stadt waren, und die jetzt noch Lohn- und Gehaltsansprüche aus der damaligen Zeit geltend machen würden. Valentin:“Hä, etwa auch die von den KZ’s?“ Rustmann: „Wir hatten hier in der Stadt keine KZ’s und Lager!“ Sprach’s und nahm Valentin, von dem er natürlich nicht wissen konnte, dass er zu Hause bei den Nordmanns „Walli“ genannt wurde und in seinem gesamten Wohngebiet Wunderstadt neuerdings „Persil“, zur Seite und zeigte ihm einen kleinen Aktenbereich, Polizei 1944 – 1945, Buchstaben L – M, den er sich einmal in den nächsten Ausbildungswochen durchlesen solle, um zu begreifen, was hier unten im Keller los ist. Ihm wurde von Rustmann ein kleiner Tisch zugewiesen, auf dem eine dicke schwarze Schreibtischlampe aus der Vorkriegszeit stand, auf dem er die Kriegsakten studieren sollte, mit dem Hinweis: „Wenn du Fragen hast, dann komm‘ doch einfach nach oben in mein Amtszimmer – aber nicht zwischen 12 und 2, da bin ich draußen auf Kontrolle!“So verbrachte Valentin die ersten 12 Wochen seiner Berufsausbildung täglich von 7.30 – 16.00 unten im Keller ohne Tageslicht. Das erklärt auch seine Gesichtsblässe in dieser Zeit, Das ging so weit, dass Oberinspektor Rustmann in eines Mittags fragte, ob er krank sei oder sonst was habe. Nö, antwortete Valentin und packte seine 4 Stullen mit Streichmettwurst und seine Flasche Gelbe Brause aus, die ihm Luise Nordmann, seine Pflegemutter, täglich in die Beamtenaktentasche steckte. Manchmal legte sie eine Banane oder einen Apfel bei und sagte noch zum morgendlichen Abschied: „Pass‘ schön auf Walli, was der Oberamtmann dir so beibringt!“. So las er den ganzen Arbeitstag über sinnlos Personalakten der Buchstaben L-M von Polizeibeamten und Gefängniswärtern, die im Nationalsozialismus Dienst für den Führer schoben, und die Anträge auf Weiterzahlung ihrer Bezüge auch für die Zeit nach 1945 gestellt hatten. Aus den meisten Akten konnte Valentin entnehmen, dass die betreffenden Antragsteller völlig unschuldig am Nationalsozialismus waren, sie hätten ja nur staatstreu ihren Dienst als Beamte verrichtet. Von Unrecht und Diktatur hätten sie selbst nichts gemerkt! Um 16.00 Uhr verließ dann Valentin immer fluchtartig den muffigen Keller ohne zu vergessen, den Beamten des Amtes noch zuzurufen: „Schön‘ Feierabend!“- manchmal auch nur in der Kurzform „Feierabend“ Worauf dann immer ein mehrfaches „Gleichfaaaalllls“ aus allen Stockwerken des Amtes erschallte. Er freute sich wie Stint auf das Essen, das Luise Nordmann im täglich zubereitete. Dabei standen im Tageswechsel dann immer die Lieblingsspeisen von „Persil“ auf der Luise-Nordmannschen Speisekarte: Königsberger Klopse, gestofte grüne Bohnen, Kartoffeln, Reichlich Soße zum Zermatschen der Kartoffeln, Milchreis mit Zucker und Zimt sowie „Teufelsbraten über die Deichsel jeschissen“, so wie Luise, die ja ursprünglich aus Ostpreußen zugewandert war, die scharfe Hacktomatensoße mit viel Pfeffer und Paprikapulver drin nannte. Am frühen Abend ging es dann nach einer Stunde Ausruhens auf dem Nordmannschen Wohnzimmersofa immer gleich in die Christengemeinde – dort war immer etwas los. Wenn nicht Junge Gemeinde war, dann war entweder Jungschar, bei der die Älteren auf die Kleineren beim Tischtennisspielen aufpassten – oder es war Kindergottesdienstkreis und Vorbereitungen der Modernen Gottesdienste. Oder dem Diakon beim Drucken des Gemeindebriefes nach dem manuellen Max-Müller-Verfahren helfen, immer kurbeln. Auch das Verteilen des Gemeindebriefes in der Wunderstadt West stand auf dem Programm. So verlief auch die Freizeit Persils in geordneten Bahnen – und sei es nur in Form von Herumlungern mit den anderen Jungs und Mädchen auf dem Kirchplatz unter dem gewaltigen Glockenturm, aus dem ganz oben ein mächtiges Kreuz herausragte.
Nach den 12 Wochen im Kellerarchiv sah Valentin dann endlich wieder Land. Er wurde ausbildungsmässig zur nächsten Station beordert – und zwar in die Krankenhausverwaltung Ost. Darüber war er wieder einmal sehr glücklich, weil er die Krankenhausverwaltung Ost sehr gut mit dem Fahrrad oder zu Fuß von der Graf-Lüttgenstein-Straße erreichen konnte. Sein Beamtenschwerpunkt für die nächsten 12 Wochen – es sollten 24 Wochen werden – war jetzt Beschaffung von allem, was in einem Krankenhaus so benötigt wird. Er bekam von Lore Brunkens, seiner neuen Ausbildungsanleiterin, klare Tagesbefehle im Hinblick auf seine Aufgaben, die sich dann zumeist auf das stundenlange telefonische Abfragen verschiedener Firmen in der ganzen Stadt bezüglich ihrer Angebote und Preise bezogen. Immerhin hatte er hier einen eigenen richtigen Schreibtischplatz mit allem drum und dran inklusive Schreibtischlampe und natürlich Telefon, mit dem er ja die gesamte Materialversorgung des Krankenhauses abfragen sollte. So ging es für Valentin – einige riefen ihn auch hier „Persil“, weil sie auch aus der nahegelegenen Wunderstadt waren und den Ruf des Auszubildenden kannten – so ging es also für „Walli“, so wie ihn seine Pflegeeltern nannten, in der zweiten Phase seiner Beamtenausbildung überwiegend um: Toilettenpapier, Stützstrümpfe, Plastikgeschirr, Bettwäsche, Patientenhemden, Desinfektionsmittel, Mundschutz für die Ärzte, Damenbinden, Mullbinden - und Festbinden, um nicht zu sagen: Zwangsjacken und vieles andere. Valentin musste die Angebotspreise aufschreiben und Lore Brunkens vorlegen. Der billigste Anbieter sollte dann immer den Zuschlag von Lore bekommen. Wobei Valentin auffiel, dass Lore nach Vorlage der Preisvergleiche hinter ihren verschlossenen Türen noch einmal mit ausgewählten Telefonnummern telefonierte, mit denen er selbst vorher auch bereits schon telefoniert hatte. Irgendetwas, so dachte er sich, läuft da wohl an ihm vorbei. Er hörte nur einmal, als Lore ihre Tür vergessen hatte zu schließen, sie ins Telefon schreien: „Hör mal Heinz, ich tue alles für dich, wie kannst du mir mit so einem Preis kommen. Geh‘ bitte runter. Sonst wird das nichts!“ Valentin verstand nur Bahnhof. Allerdings fragte er sich, was er hier im Krankenhaus eigentlich mache und murmelte in sich hinein: Das ist doch alles krank hier. Weil Valentin, von einigen Kollegen und Kolleginnen in der Krankenhausverwaltung auch PERSIL gerufen, seine Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit von Lore meisterte, setzte sie sich dafür ein, dass er noch weitere 12 Wochen in der Krankenhausverwaltung Ost bleiben konnte. Das machte Valentin, genannt Persil, bei sich zu Hause sogar Walli, wieder sehr stolz und glücklich. Auch weil er noch eine weitere Zeit in der Nähe von Lore Brunkens bleiben konnte, die trotz ihres älteren Alters, sie war wohl so um die 40 rum, gewisse verborgene Gefühlsneigungen und auch heimliche sexuelle Reize bei ihm auslöste
Nach dem Krankenhaus Ost musste Valentin dann im weiteren Beamtenausbildungsverlauf zurück in die Stadt. Er durchlief herrliche weitere Ausbildungsstationen. Zum Beispiel das Sozialamt, in dem sein kette-roth-händle-rauchender Ausbildungschef einem aufmüpfigen Antragsteller was auf die Fresse gab. Oder nehmen wir das Ausgleichsamt, das damals noch im Bamberger Haus untergebracht war, wo er dank des sympathischen körperbehinderten Anleiters sehr viel über die Verfolgung und Enteignung der Juden und anderer Gruppen in der Nazizeit lernen konnte. Hier wurden zum ersten Male richtige Ausbildungsgespräche mit ihm geführt. Abteilung Südamerika. Geschweige denn, die Gemeindeunfallversicherung. Auch hier wurde er vom Ausbildungschef, der ihm viel erklärte, herzlich angenommen. So erklärte er Valentin zum Beispiel, was versicherungsmässig passiert, wenn eine Hausfrau, die sonst keine Versicherung hat, im Haushalt beim Fensterputzen auf dem kleinen Fußtritt herunterfliegt und sich alle Knochen prellt. Dann, so Uwe Müller, immer bestens gekleidet in Schlips und Kragen und die Haare schön nach hinten gewellt, der Ausbildungschef, dann sind wir dran. Wir schicken, so Uwe weiter, dann unseren Technischen Dienst in den Unfallhaushalt und lassen prüfen, ob es ein echter Unfall war, oder ob „die Mutti“ alles nur vorgetäuscht hat, um an Versicherungskohle zu kommen. Aha, Gegen 1 war dann immer Schluss mit Gemeindeunfallversicherung. Das war der Zeitpunkt, zu dem Müller das Amt verließ mit den Worten „Middag“ und für die nächsten drei Stunden nicht zurückkehrte. Manchmal nahm er Valentin, seinen Auszubildenden, den er nicht Valentin nannte und auch nicht Walli, und schon gar nicht Persil, sondern Herr von Henckelsiefen, mit in seine „Middagspause“. Valentin sprach dann aber nicht über sein Erleben mit Müller, sondern nahm es hin wie es war, schließlich war er ja nur der auszubildende Beamtenanwärter, Immerhin hat er in seiner Ausbildung einige Kneipen im Umfeld des Gemeindeunfallversicherungsverbandes der Stadt kennengelernt. Auf andere, weitere Ausbildungsstellen soll hier nun weiter gar nicht eingegangen werden, besonders nicht auf deren kollegialen Gemeinschaftsrituale. Egal, ob Urlaubsantritt, ob Urlaubsrückkehr – egal ob Geburtstag oder Kindsgeburt, Beförderung oder Sieg der heimischen Fußballmannschaft. Egal, ab Mittag, wenn kein Publikum mehr zu erwarten war, wurde in den Ämtern, die Valentin im Laufe seiner Ausbildung kennengelernt hat, die Sau raus gelassen. Nur unten im Kellerarchiv des Personalamtes, in der ersten Ausbildungszeit, da war gar nichts los. Tote Hose. Wie nicht anders zu erwarten, hat Valentin in der schönen Ausbildungszeit das Trinken von alkoholischen Getränken und das Rauchen filterloser Zigaretten gelernt. Seinem Diakon entsprechend natürlich Virginia Nr.6. Seine Pflegeeltern Harry und Luise Nordmann waren natürlich überhaupt nicht begeistert von der Nikotin- und Alkoholentwicklung ihres Zöglings. Sie blieben jedoch gelassen, zumal sie ja selbst bei geöffneter Balkontür Fernseh kuckten und dabei rauchten und gelegentlich auch ein Gläschen dazu tranken.
13.9.2018
Kapitel 2
Diakone und andere Pastoren sowie die Erfindung des Spitznamens „PERSIL“
Valentin von Henckelsiefen, so wie er sich auch amtlich nennen durfte, dieser vom Himmel gefallene Kaspar Hauser der Wunderstadt, lebte sich in die Pflegefamilie Nordmann gut ein. Er hatte sein eigenes Reich in seinem Zimmer innerhalb der Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad der Nordmanns im 4.Stock in der Graf-von-Lüttgenstein-Str. Nr.55. Aus seinem Kinderzimmer heraus konnte er das gesamte Areal der Wunderstadt West bestens überblicken. Der Blick hinüber in die Wunderstadt Ost war durch den 120 m hohen Wolkenkratzer versperrt. So saß er dann bald auch, wie früher in der Kastanie, im offenen Fenster und murmelte Gedichte vor sich hin. Dabei blickte er hinunter auf den Garagenplatz und konnte gut beobachten; wie Hauswart Hummelmann die kleinen Nachbarjungs zusammenstauchte, weil sie ständig mit dem Fußball gegen die Garagentore schossen, so dass das Scheppern in der gesamten Wunderstadt, nicht nur West, zu hören war. Auch konnte er von seinem Fensterplatz aus gut verfolgen, wie in den gegenüberliegenden Reihenhäusern die Ehefrauen der Sozialdemokraten die Blümchen in den handtuchartigen Gärten mit Wasser begossen, und wie sie zupften und pflanzten. Das Mähen der Rasenflächen kam für die Frauen nicht in Frage. Dafür kamen abends, oder sagen wir: am frühen Nachmittag, die Sozialdemokraten vom Dienst in den städtischen Behörden zurück in die trauten Heime. Dann wurden nicht nur die kleinen Rasenflächen mit diesen handbetriebenen Rasenmähern bearbeitet, sondern dann wurden auch noch die Wege und Eingangsbereiche vorne mit den Wasserschläuchen abgespritzt und ausgiebig geschrubbt Das alles hatte Valentin im Blick und er konnte das Geschehen unten wunderbar betrachten. Auch schaute er nach den Mädchen, die sowohl in seinen Block als auch drüben in die Reihenhäuser verschwanden. Meistens kicherten sie und liefen immer zu zweit durch die Gegend. Zwei Mädchen, deren Namen sich später erst herausstellen sollen, riefen zu Valentin in den 4.Stock hoch: „Stubenhocker, Stubenhocker, Hosenkacker, Hosenkacker“- und kicherten und verschwanden hinters Müllhaus oder unter die Erdgeschossbalkone.
Die Vormittage verbrachte Valentin selbstverständlich in der Mittelschule, in die er von Schwester Wilma geschickt wurde. Sie sagte nur: „Allgemeine Schulpflicht auch für Findlinge“. Und Harry und Luise Nordmann ergänzten: „Aus dir soll ja mal was werden, damit du nicht am Fließband bei Borgward landest.“ Harry und Luise wussten, wovon sie sprachen, denn beide waren ja bei Borgward beschäftigt – Harry in der Polsterei und Luise in der Kantine der Betriebskrankenkasse als Küchenhilfe. Valentin wurde in der Mittelschule seinem angenommenen Alter entsprechend und seinem körperlichen Zustand entsprechend in die 9.Klasse gesteckt. Sein Klassenlehrer wurde der bereits kurz vor der Pensionierung stehende Pädagoge und Anhänger der Vorkriegswanderbewegung „Blaue Blume“ Ludwig Steinau. Der Höhepunkt des mittleren Schulbesuches in der 9. und 10.Klasse sollte für Valentin dann die Klassenfahrt zur Burg Ludwigstein sein, von wo aus Ludwig mit den Schülern seiner Klasse zweimal eine Wanderung zum Hohen Meißner, dem Heiligen Berg der Deutschen Wanderbewegung, unternahm. Einige Schüler sollten von dieser Klassenfahrt dann später völlig ausgepumpt und abgemagert nach Hause gekommen sein. Wie auch immer, in der Mittelschule strebte Valentin die Mittlere Reife an und schlug sich so eben schlecht und recht bis zum Abschluss durch. Die Schulabschlussfahrt ging dann mit Ludwig auf die Insel Langeoog. Hier musste zweimal die gesamte Insel wandermäßig umrundet werden. Nachts, wenn Ludwig altersgerecht im Tiefschlaf versunken war, strolchten die Jungs aus den Fenstern des kirchlichen Schullandheimes und machten den Strand und die Dünen unsicher. Völlig unausgeschlafen kamen die Schüler und Schülerinnen von der Insel zurück, zumal ja auch noch nächtliche Kissenschlachten in den Zimmern der Mädchen stattfanden.
Valentins Klassenkamerad Ulli, der mit seinen Eltern noch rechtzeitig vor dem Mauerbau und der Schließung der Zonengrenze im Jahre 1961 von Thüringen aus in den Westen „rüber machte“, ermunterte Valentin, doch einmal mitzukommen in die Jugendgruppe der Christengemeinde, da wo auch Schwester Wilma ihre Station hat. So lernte Valentin die Welt der Diakone, Pastoren, Küster, Vikare, Kantoren und Gemeindehelferinnen kennen. Schwester Wilma kannte er ja bereits. Eine Vielzahl von evangelischen Diakonen versammelte sich in der Wunderstadt. Wo sie auch überall herkamen: aus dem Rauhen Haus in Hamburg, aus dem Jahannisstift in Spandau, aus den Anstalten in Bethel, aus Bielefeld, Kassel und weiß Gott von wo. Doppelt so viele Pastoren kamen dann noch hinzu, etwa im Verhältnis 3 Pastoren – 1 Diakon. Die Wunderstadt war also von Anfang an fest in der Hand des Christentums, zumal ja auch noch neben die drei evangelischen Kirchenpaläste ein katholischer Tempel hingesetzt wurde, den Harry Nordmann wegen seiner Bauform immer spöttisch „Katholischer Güterbahnhof“ nannte. Die Diakone, die alle ein Handwerk erlernt haben mussten und über einen guten Leumund verfügen mussten, und die sich um die Kinder und Jugendlichen in der Wunderstadt kümmern sollten, teilten sich ihre Mission in der Wunderstadt nach Schwerpunkten auf: Hans, der Tischler und Diakon der Christengemeinde, machte „Moderne Gottesdienste“ und Theaterspiel zu seinem Schwerpunkt, weil er nicht nur gut tischlern konnte, sondern auch gut Texte für fromme Lieder und Theaterstücke schreiben konnte. Willi, der Bäcker und Diakon der Himmelsgemeinde, war der Blasmusik verfallen und machte sie zu seinem diakonischen Schwerpunkt. In seinem Zuständigkeitsbezirk in der Wunderstadt Ost konnte bald nach dem diakonischen Dienstantritt von Willi jedes Kind und jeder Jugendliche entweder Trompete oder Posaune spielen. Und drüben, auf der anderen Seite der Brücke, in der Judas-Gemeinde, wirkte der ehemalige Landwirtschaftsgehilfe und Diakon Siegfried, der aus dem Kohlenpott kam, mit dem Schwerpunkt Sozialdemokratische Kirchliche Jugendarbeit.
So nahm Valentin also zusammen mit Ulli aus Thüringen an dem nächsten kirchlichen Treff der Jugend von Wunderstadt bei Hans, dem Tischler und Diakon, teil. Im Clubraum waren bereits die anderen Jungs und Mädchen, etwa 7 an der Zahl, versammelt, die auf das Erscheinen des Diakons und ehemaligen Tischlers warteten. Mit halbstündiger Verspätung kam dann Hans, der Diakon, endlich. Seine Verspätung entschuldigte er mit der Begründung, dass er seine beiden kleinen Kinder, Johanna Theresa und Emil Paulus, noch habe ins Bett bringen müssen, da seine Frau Jutta Maria unpässlich sei und wohl Kreislauf habe. Sie habe den ganzen Tag getöpfert und Krippenfiguren für Weihnachten hergestellt, so dass sie völlig fertig ist. „Nun aber“, so Hans, „wollen wir uns aber davon nicht abhalten lassen, zwei schöne Gruppenstunden miteinander zu verbringen. Wir fangen an mit einem Fürbittgebet, dann machen wir noch einmal eine persönliche Vorstellungsrunde, da ich sehe, dass wir neue Gruppenmitglieder haben“. Valentin schluckte und dachte sich, was das denn nun sei. Fürbittgebet – das kannte er bisher ja noch überhaupt nicht. Und dann fing Hans an: „Herr, wir bitten dich um eine gute Gruppenstunde. Dass wir nett und freundlich zueinander sind, und dass wir uns zuhören und achten. Vergebe uns unsere Sünden von heute und sei uns gnädig. Nimm uns auf in deine Güte, und besonders unsere neuen Gruppenmitglieder. Amen.“ Valentin spürte sofort, dass er wohl gemeint sei. Und er fragte sich, wie er sich jetzt anständig verhalten müsse, Harry und Luise hatten ihm ja mit auf den Weg gegeben dem Diakon immer in Ruhe zuzuhören und keine Widerworte zu äußern. So also machte er es, faltete wie die anderen Gruppenmitglieder brav die Hände bei den Ausführungen des Diakons und sprach auch das Amen am Schluss des Fürbittgebetes laut mit, so, als sei er schon seit ewigen Zeiten Mitglied der jungen Christengruppe. Der Diakon sagte dann noch ganz zum Schluss des Fürbittgebetes: „Gott ist mitten unter euch, seinen Segen habt ihr!“ Er steckte sich danach erst einmal eine Virginia Nr. 6 an und qualmte, wie es seine Art als Kettenraucher filterloser Zigaretten war, den Jugendlichen, die alle selbst noch nicht rauchten die Heilige Bude voll. Dabei ist dem Diakon zugute zu halten, dass er immer, wenn er rauchen wollte, vorher die kleinen Fensterklappen des Gruppenraumes öffnete.
„So, dann kommen wir jetzt zur Vorstellungsrunde. Valentin kommt zuletzt ran, damit er erst einmal die anderen kennenlernt, wenn er sie draußen nicht schon kennengelernt hat. Fang‘ du man an Helmut, du bist ja am längsten schon in der Gruppe – dann Horst, dann Wolfgang, dann Ewald, dann Monika und so weiter im Kreis. Zum Schluss dann Valentin, wer immer ihm diesen Namen gegeben hat! Wir sagen unseren Vornamen, unseren Nachnahmen, unser Alter, unsere Schule oder Lehrstelle, unsere Wohnung und wer unsere Eltern sind, und was die machen“ Der Diakon hätte eigentlich alle selbst vorstellen können, es kam ja sonst keiner zu Wort. So brabbelten und nuschelten alle die gewünschten Informationen in den Kreis und erfreuten sich daran, wenn ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin noch nicht genau sagen konnte, wie ihre neue Adresse in der Wunderstadt lautete. Besonders dann, wenn Ingeborg, das Mädchen vom Lande hinten bei Hoya, noch ihre alte Dorfadresse zum Besten gab: Bökenbaken, Hof Nr. 7. Alle krümmten sich vor Lachen. Dann war Valentin von Henckelsiefen dran. Er bibberte wieder und bekam nur knapp heraus: „Ich bin Valentin von Henckelsiefen, mehr weiß ich nicht. Ich gehe zur Mittelschule, in Ullis Klasse. Schwester Wilma hat mich bei Harry und Luise untergebracht, das sind jetzt meine Pflegeeltern. Wir wohnen in der Graf-von-Lüttgenstein-Straße Nr.55. Ich mache bald die Mittlere Reife und bin froh, dass ich jetzt hier mitmachen darf. Ich kann viele Gedichte auswendig – soll ich mal eins aufsagen. Wie wär’s mit dem Römischen Brunnen? Aufsteigt der Strahl…“ In diesem Moment griff der Diakon wieder ein. Er nahm Valentin zur Seite und versuchte ihn zu beruhigen. „Du musst hier keine Gedichte aufsagen, der Dichter hier bin ich. Ist schon gut, der Herr wird dich lenken.“ Valentin war glücklich darüber, nicht weiter erklären zu müssen, woher und wo und wie. Die Junge Gemeinde schaute verlegen nach unten auf den frisch gebohnerten Linoleumfussboden des Gruppenraumes. Die meisten der jungen Christen knickerten in sich hinein und warteten auf ein Zeichen des Diakons im Hinblick auf den Fortgang der christlichen Gruppenstunde. Hans, der Tischler und Diakon, rettete die beklemmende Situation, indem er sich eine weitere Virginia Nr.6 anzündete und mit seinem Tischlerhumor versuchte aufzulockern: „Valentin, weißt du was – der Herr und auch ich und auch die meisten Freunde hier finden dich nett, aber dein Name ist dem Herrn und auch mir und sicher auch den meisten anderen hier viel zu kompliziert und zu lang. Wir könnten dich Karl oder Kalle nennen nach Karl Valentin. Aber wer, außer mir, kennt hier in der Wunderstadt schon Karl Valentin. Was hältst du davon, wenn wir dich zukünftig einfach „PERSIL“ rufen, das wird dem Herrn auch gefallen?“ Der Diakon klopfte sich für seine Wortschöpfung mehrfach auf die Brust und zündete eine weitere Virginia an, zog kräftig dran und blies den auf Lunge gezogenen Rauch in Kringeln in den Gruppenraum zurück. Dabei belustigten sich die weiteren Mitglieder Jungen Gemeinde in Wortspielereien und riefen und glucksten heraus „Persiiiil“, oder „was Frauen wünschen…“, oder „Persl“, oder oder oder! Und konnten sich vor Lachen nicht halten. Willi Meyer, aus Bremerhaven in die Wunderstadt zugezogen, lag unterm Gruppentisch und konnte sich nicht wieder einkriegen, der Dussel! Ein Name war geboren. Ein Diakon hatte Großartiges vollbracht.
6.9.18
Kapitel 1
Die wundersame Schöpfung des Valentin von Henckelsiefen
Es geschah ein Wunder in den Jahren nach dem furchtbaren Krieg. Aus dem Boden von saftigen Kuhweiden und ertragreichen Heuwiesen zwischen Golfplatz und Pferderennbahn erwuchs eine Stadt. Plötzlich schossen Häuserblöcke unterschiedlicher Höhe aus dem Bauernland. Wie die Alpen sich aus dem Meer erhoben, so stiegen hier aus der flachen Marschlandschaft heraus gewaltige bauliche Gebilde mit Fenstern und Türen und fertigeingebauten Küchen und Badezimmern in den Himmel. Sie streckten sich hoch bis in 120 Meter Höhe, andere bis 80 Meter, die meisten bis 20 Meter. An den Rändern des Wunders erblickten kleine Flachbauten, höchstens 6 Meter hoch, mit quadratischen Rasenflächen, die dann später von den ersten sozialdemokratischen Siedlern sofort mehrmals in der Woche gemäht wurden, das Licht des Wunders. Auch nichtquadratische Gebilde mit kreuzbestückten Türmen, in denen große Glocken hingen, reckten sich zum Erstaunen aller in den Himmel. Schulen und Kindergärten, Einkaufsläden, Kneipen und Cafés ragten an mehreren Eckpunkten aus dem Boden. In der Mitte, im Zentrum des Wunders, breitete sich ein Platz mit Läden und Sitzbänken aus. Es war der Platz der Freiheit. Weshalb er später „Berliner Freiheit“ genannt wurde, das bleibt das Geheimnis der späteren sozialdemokratischen Siedler. Straßen, Brücken und ein vulkanischer See, der ständig Wasser in die Höhe spuckte, rundeten das Gesamtbild des Wunders ab. Die sozialdemokratischen Siedler, die hier zuerst ankamen und sich die besten Stücke sicherten, nannten das aus dem Boden gewachsene wundersame Stadtgebilde dann auch, wie originell, „Wunderstadt“. Sie teilten das Gebilde auf in Wunderstadt West und Wunderstadt Ost, weil eine lange natürliche Wegtangente die beiden Wunderstadtgebiete in Nord-Süd-Richtung teilte. Allerdings waren beide Wundergebiete im Rahmen der Schöpfung durch eine große Brücke und mehrere schmale Fußgängerbrücken miteinander verbunden. Damit die späteren Siedler, nicht nur die sozialdemokratischen, auch einmal das Rathaus und Karstadt besuchen konnten, wurden Busse hingestellt. Sie trugen oben in Glaskästen die Nummern 23 und 24 und verkehrten stündlich. Später, o Wunder, erhielt die Wunderstadt West sogar eine Straßenbahn.
Die Besiedlung der Wunderstadt verlief chaotisch. Nachdem sich die sozialdemokratischen und gewerkschaftlich orientierten Siedler die besten Stücke in den Bauten gesichert hatten, vorrangig in den Flachbauten mit Gartenstück, rissen sich die übrigen Siedler um den Rest. Sie kamen aus allen Teilen der Welt, um an dem Wunder teilzuhaben. Je nach Größe ihrer Sippen wurden die Wohneinheiten zugeteilt. Die Zuteilung nahm wiederum eine sozialdemokratische Wunderbehörde vor, die weder nach Parteibuch, noch nach Herkunft, und schon gar nicht nach religiöser Ausrichtung verteilte - angeblich. Siedler, die aus fernen Ländern anreisten, und die „Gastarbeiter“ genannt wurden, bekamen genau so Zuteilungen wie die einheimischen Siedler, die durch den vorausgegangenen Krieg in Wohnungsnot waren. Viele Familien mit einer Mehrzahl von Kindern bevölkerten nun die Wunderblöcke. Der Anteil der Vertriebenen und Kriegsflüchtlinge war außerordentlich hoch. Das hörte man schon an dem babylonischen Sprachengewirr in den Hausfluren und Vorhöfen. Litauisch war dabei, Ostpreußisch, Sudentenländisch, Rumänisch, Italienisch, Sächsisch, Thüringisch, Schlesisch und nicht zuletzt echt Bremisch – und viele andere Dialekte und Sprachen. Sogar Berlinisch hörte man, auch Plattdeutsch, sowie Portugiesisch.
Zur Verwunderung aller, die die Bänke rund um den Platz der Freiheit in Besitz genommen hatten, tauchte plötzlich, wie aus dem Nichts, ein etwa 14jähriger Bengel mit einem Schild um den Hals in der Mitte des Platzes auf. Er stand verlassen und verloren da, und er wusste nicht, wie ihm geschah. Er blickte hinauf zu dem 120 Meter hohen Wolkenkratzer, der direkt neben den Platz der Freiheit im Schöpfungsprozess hingesetzt wurde. Der Junge zitterte am ganzen Körper und weinte – so etwas hatte er offensichtlich in seinem ganzen Leben bisher noch nicht gesehen. Die Gemeindeschwester mit der evangelischen Haube, die sich gerade auf dem Platz der Freiheit etwas ausruhte von ihrer schwierigen Arbeit in den Blöcken – unter anderem musste sie den zugewanderten Siedlern beim Ausfüllen der unzähligen Formulare für die sozialdemokratischen Ämter, Behörden und Hausmeisterbüros behilflich sein – die Gemeindeschwester jedenfalls begab sich in ihrem knöchellangen wasserdichten Kleppermantel zu dem zitternden Jungen, der plötzlich auf der Bildfläche erschienen war, um das Schild, das der Junge um den Hals trug, in Augenschein zu nehmen. Sie streichelte den Jungen über das gescheitelte Haar und sprach zu ihm so etwas wie: der liebe Gott wird es schon richten oder so ähnlich, um dann das Pappschild zu ergreifen, das dem Jungen um den Hals hing. Sie traute ihren Augen nicht, was auf dem Schild handgeschrieben in Sütterlinschrift zu lesen war.
„Bitte nehmen Sie ihn an. Er ist ein guter Junge. Nur manchmal mussten wir ihn verhauen. Er sitzt tagelang in der Kastanie und sagt Gedichte auf. Wir können nicht mehr. Er geht zur Mittelschule und will später einmal Pastor werden. Wir wollen seinen wahren Namen nicht nennen. Geben wir ihm doch den schönen halbadeligen Namen Valentin von Henckelsiefen“
Die Gemeindeschwester nahm das Findelkind mit ins Gemeindebüro der Christengemeinde im Stadtteil Wunderstadt West und gab dem Findling zu essen und zu trinken. Dann platzierte sie Valentin auf
den Rücksitz ihres Gemeindemopeds und brachte den Jüngling in eine kinderlose erziehungswillige Pflegefamilie aus ihrem Gemeindebezirk in Wunderstadt West. Bei Harry und Luise Nordmann in der
Graf-von-Lüttgenstein-Straße Nr. 55 im 4.Stock fand Valentin im leer stehenden Kinderzimmer ein neues Zuhause, dank der Gemeindeschwester Wilma. Welch ein weiteres Wunder in dieser wunderbaren
Zeit der Wunder. Fortan nun sollte Valentin von Henckelsiefen, so wie er später auch amtlich eingetragen wurde, ein sagenhaft glückliches Leben führen.
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seit 13 Jahren
meistens leise - manchmal laut - aber immer upz
SEIT 01.09.2011 MEHR ALS 26.050 AUFRUFE
SEIT 01.09.2011 MEHR ALS 46.469 SEITENANSICHTEN
10.10.24 - letzte 30 Tage - 196 - 386 - gestern - 7 - 7 - und nachbarschaftliche Steckrübensuppe mit Fleischeinlage
Steckrübensuppe. Gab's nach dem 2.Weltkrieg nur!
"Schreiben kann schrecklich sein.
Geschrieben haben ist wunderbar."
Dörte Hansen, Schriftstellerin
Quelle: NDR Kultur
Die Herausgeber
Ulli Pelz & Josef Fellstein
manchmal nennen sie sich auch Katharina Loewe